zu zweit

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Sonntag, 21. Februar 2016

„Ich bin irr, aber nicht blöd“


Es ist wieder Samstag: Aus der Irrenanstalt in Buenos Aires wird gesendet.

„Wir waren Geistesgelähmte, nicht bereit für die irre Welt da draußen, für das internationale Irrenhaus“, ruft der bebrillte Hugo López ins Mikrofon. „Jetzt aber müssen wir beginnen, Politik zu machen: Stellt Euch als Abgeordnete und Senatoren auf!“ Einige nicken, andere sitzen lethargisch mit eingeknicktem Kopf im Kreis auf ihrem Stuhl. So auch der 33-jährige Federico López Bruno. Gerade eben hatte er noch eifrig mit sich selbst geredet, jetzt starrt er mit offenem Mund und weit aufgerissen Augen ins Nichts. Aus den Lautsprechern dröhnt ein eingespielter Satz: „Hallo Buenos Aires, hallo Argentinien, hallo Welt.“

Es ist Samstagnachmittag. Aus der psychiatrischen Klinik José T. Borda der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires wird live das Radioprogramm „La Colifata“ gesendet. Der Name ist nicht von ungefähr gewählt, das spanische Wort „colifata“ bedeutet liebevoll gesagt „durchgeknallt“. Patienten oder ehemalige Patienten sind hier die Radiomacher. Und nicht nur liebevoll, sondern auch stolz hört man sie während der fünfstündigen Sendung immer wieder mal Sätze sagen wie „Soy un loco – ich bin ein Irrer“ oder „Ich bin irre, aber nicht blöd“. Sie wissen, wo sie sind und wieso sie hier sind, und das ist völlig in Ordnung. Im Borda werden ausschliesslich Männer hospitalisiert, viele von ihnen sind schizophren oder manisch depressiv.
Neu dabei: Federico López Bruno sieht sich alles erst mal an.

Federico erwacht aus der Starre und verlangt nach dem Mikrofon. Er stellt sich vor. „Danke, dass ich hier sein darf.“ Heute ist es sein „erstes Mal“ bei der Colifata. Federico ist kein Borda-Patient, sein Psychiater hat ihm den Sender empfohlen. Federico erzählt seiner Hörerschaft, wieso Matetrinken intellektuell und der argentinische Cowboy – der Gaucho – ein Denker ist. Er erklärt, warum psychotische Menschen so viele Zigaretten rauchen. „Wir rauchen impulsiv, damit wir die Psychose ertragen können“, so der junge Argentinier. Nachdem er das Mikrofon wieder abgibt, stellt er rasch klar, dass er nicht psychotisch sei, sondern einfach immer wieder an seine Grenzen komme. Dann springt er auf und geht eine Zigarette suchen. Er raucht fünf Päckchen pro Tag.

Seit über zwanzig Jahren versammeln sich jeden Samstag die „locos“ in der Parkanlage des Psychiatriespitals – unter Bäumen, die Schatten werfen und wo Vögel zwitschern. Für einen Moment verlassen die Insassen die riesigen, grauen Zementblöcke des Borda, die auch innen trist und desolat sind. Aus den Lautsprechern hört man jetzt Reggae-Musik. Einige Patienten wippen auf ihren Stühlen hin und her. Vorne am Tisch, wo ein kleines Mischpult und ein paar Laptops stehen, sitzt und koordiniert der Psychologe und Colifata-Gründer Alfredo Olivera.

 „Es war der Versuch eine kommunikative Brücke zwischen den Internierten und dem Resten der Gesellschaft zu bauen“, so Olivera. „Die Menschen in der Psychiatrie sind nebst mit ihrer Krankheit noch mit einem viel schlimmeren Übel konfrontiert: der sozialen Ausgrenzung.“ Das Radio habe 1991 ohne politische, finanzielle und technische Unterstützung begonnen. Bereits nach einer kurzen Weile habe man bei den Patienten, die an der wöchentlichen Sendung beiwohnten, positive Veränderungen festgestellt. „Aufgrund Zuhörer-Reaktionen merkten die Internierten, dass das, was sie sagten, auf der anderen Seite der Mauer auch angehört wird“, erinnert sich Olivera. Heute wird der weltweit erste über Internet verbreitere Sender aus einer psychiatrischen Anstalt von zahlreichen argentinischen Rundfunkanstalten übermittelt und in Kliniken in Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland nachgeahmt.

Manchmal verlassen einige Radioteilnehmer die getraute Runde und verschwinden in die grauen Blocks der Klinik. Andere Patienten dagegen kommen daher geschlurft, gesellen sich neu dazu. Zum Teil sind sie sehr eigensinnig gekleidet: mit Wollkappen, obwohl Sommer ist, oder in Hosen, die beinahe herunterfallen. Hugo teilt über Mikrofon mit, er habe sich für den Friedensnobelpreis präsentiert. Später greift er nach der Gitarre, spielt und singt. Sein Nachbar steht auf und tanzt.

Hugo ist ein Urgestein bei der Colifata. Der 77-Jährige wurde vor über zwanzig Jahren für nur kurze Zeit ins Borda eingeliefert. „Was ich hatte, konnte mir nicht einmal der Psychiater sagen.“ Ihm haben letztendlich die Medikamente, Familie und Freunde – und die Colifata! – geholfen, um wieder gesund zu werden. Heute lebt er nicht mehr im Borda, besucht aber seit zehn Jahren jeden Samstag die Sendung. Hugo ist bis über die Landesgrenzen bekannt: Er stand mit Manu Chao auf der Bühne. Der spanisch-französische Sänger hatte mit den Borda-Insassen eine CD aufgenommen. Auch der weltberühmte US-Filmregisseur Francis Ford Coppola war von den Radiomachern gerührt, er liess 2009 die Colifata-Truppe in seinem Film „Tetro“ auftreten.

Das Mikrofon macht weiterhin die Runde. Bei „Radio la Colifata“ kommen Philosophen, Krieger des Lichts und Engel zu Wort. Einer der Patienten stellt sich als der Polizeikommissar der Provinz Buenos Aires vor. Über eine Stunde wird über Arbeit geredet und gestritten. Danach tragen Patienten selbst geschriebene Gedichte vor und schicken die ersten Neujahrsgrüsse in die Welt hinaus. Für Federico war dieser Samstagnachmittag „sehr bewegend“. Er werde ganz bestimmt wieder kommen. Er habe sich wunderbar amüsiert, denn: „So viele Irre an einem Ort potenzieren sich.“ (Camilla Landbø)

Sendung am Samstag von 14.30 bis 19.30 Uhr: www.lacolifata.org



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